Kammerkultur im
Südwestturm in der St. Lambertikirche Oldenburg
und Kunstwerk „Muttererde“ von Helmut Feldmann
360 Grad Kunstperformance mit Spatial Audio
Eine Zusammenarbeit von Sebastian Netta und Yvonne Franke
Der Oldenburger Künstler Helmut Feldmann hat mit seiner Bewerbung für die künstlerische Auseinandersetzung mit seinem Werk „Muttererde“ im Südwest-Turm der St.-Lamberti-Kirche in Oldenburg den Wettbewerb zur “Kammerkultur” gewonnen.
Die Kammerkultur wurde gefördert vom Kulturbüro der Stadt Oldenburg.
Der Ideenwettbewerb „Geheime Räume“ wurde ausgelobt von der Kulturellen Bildung und Teilhabe im Kulturbüro der Stadt Oldenburg.
Der Münsteraner Musiker Sebastian Netta, Initiator der Kammerkultur und die Dortmunder Künstlerin Yvonne Franke haben zusammen mit Helmut Feldmann die Idee weiterentwickelt und mit dem Oldenburger Schauspieler Jo Schmitt realisiert. Im Rahmen des Kunstprojekts Kammerkultur steht der Prozess der künstlerischen Auseinandersetzung mit verborgenen Räumen durch die Aufzeichnung von 360 Grad Videos mit Spatial Audio im Fokus. In diesen Räumen wird eine 360 Grad Kamera installiert und die ausgewählten KünstlerInnen aufgefordert, sich spontan und frei mit der Architektur und ihrer Wirkung auseinanderzusetzen.
In 2021 und 2022 wurden bereits Videos mit Oldenburger Künstlern im Degode-Haus mit der Cellistin Gerke Jürgens und im Botanischen Garten mit dem Gitarristen Martin Flindt umgesetzt. Die Filmaufnahmen wurden mit einer 360 Grad Kamera und zusätzlich mit Spatial Audio aufgezeichnet. Durch diese Aufnahmeart ist es dem Betrachter möglich, den Raum, die Szenerie und die agierenden KünstlerInnen durch individuelle Steuerung zu erfassen, zu begreifen und den für sich relevanten Ausschnitt zu wählen, während auch die Geräusche, Musik und Sprache parallel 360 Grad hörbar wird, d. h. aufgrund des Spatial Audio werden die Bewegungen und der Sound „mitgedreht“. So entsteht ein realistischer Eindruck des Raums und der Geschehnisse darin.
Der Zuschauer wird somit zum aktiven Teil des Kunstwerks und Regisseur seines eigenen Erlebens. Alle Aufnahmen sind authentisch und unbearbeitet; eine künstliche Veränderung oder Zusammenschnitte an Sound, Inhalt oder Nachbearbeitungen werden ausdrücklich nicht vorgenommen.
Interessant ist diese Art der Kunst/Synergie, die durch neuartige Technologie ermöglicht wird. Für die KünstlerInnen stellt dieses Medium eine Herausforderung dar. Man hat es hier nicht mit einem “klassischen Erzählmedium” zu tun, in dem chronologisch ein Vorgang dargestellt wird. Darauf müssen sich die Beteiligten erst einmal einstellen. Durch die Wahl der beteiligten KünstlerInnen wurde und wird sichergestellt, dass die Ergebnisse von hoher Qualität sind. “Der Prozess der Auseinandersetzung ist dabei mindestens genauso wichtig wie das Resultat. “Daher stelle ich den Prozess auch gerne dar und erläutere die Vorgänge”, so Sebastian Netta über das Projekt.
Projekt „MUTTERERDE“
mit Helmut Feldmann und Jo Schmitt
Der Künstler Helmut Feldmann lebt und arbeitet in Oldenburg. Das in diesem Gesamtkunstwerk im Fokus stehende Triptychon (dreigeteiltes Gemälde) mit dem Titel „Muttererde“ hat Helmut Feldmann bereits 2001 als Resultat aus der künstlerischen Auseinandersetzung mit den letzten Feldpostbriefen seines Großvaters Johann Feldhoff vom 07. und 08.09.1942 aus dem 2. Weltkrieg in Russland bei Noworossijsk geschaffen.
Sein Kunstwerk „Muttererde“ zeigt „den Menschen in seiner unverhüllten Gestalt, aus Erde kommend und wieder zu Erde werdend”, möchte Helmut Feldmann seinem Werk eine tiefe humane Bedeutung zukommen lassen.“
Helmut Feldman hat die Feldpostbriefe erstmalig im Jahre 2000 bei dem Besuch seiner Mutter gelesen. Diese noch in Sütterlinschrift verfassten Briefe hat Helmut Feldmann mithilfe von Pastor Hennings „dechiffrieren“ lassen.
In intensiven Gesprächen mit Helmut Feldmann wurde die Intention des Gesamtkunstwerks erarbeitet. Die daraus resultierende Idee, dass das Triptychon im Südwest-Turm der St.-Lamberti-Kirche in Oldenburg einmalig in einem geheimen Raum ausgestellt wird, wurde durch Pfarrer Dr. Hennings ermöglicht.
Die ca. 1200 erbaute St.-Lamberti-Kirche am Rathausmarkt gilt mit den 86 Metern Turmhöhe als höchstes Gebäude der Stadt. Den nicht öffentlich zugänglichen Südwest-Turm haben wir so belassen, wie wir diesen vorgefunden haben. Lediglich Licht wurde zur Inszenierung notwendigerweise installiert und auf das Triptychon ausgerichtet, um die Videoaufnahmen zu ermöglichen.
Die Präsentation des Kunstwerks ist einzigartig, Vernissage und Finissage in einem Prozess und nicht wiederholbar. Das Kunstwerk fügt sich durch die durchdachte Hängung in den Turm ein, was durch die Farbharmonie des Mauerwerks mit den von Feldmann verwendeten Farben in Einklang steht. Die Verletzbarkeit ist spürbar.
Den in Oldenburg lebenden Schauspieler Jo Schmitt konnten wir für die Lesung der Feldpostbriefe gewinnen. Um ein Gefühl für den Raum und das Setting und unsere Intention zu bekommen, hat Jo Schmitt den Südwestturm zuvor besichtigt und sich eindringlich mit den Briefen und dem Kunstwerk auseinandergesetzt. In den intensiven und lehrreichen Prozess der Entwicklung waren alle vier KünstlerInnen aktiv involviert.
Jo Schmitt als einziger Protagonist im Raum bringt dem Zuschauer die Intimität dieser persönlichen Briefe, die während des Krieges im September 1942 an der Front für die Lieben zu Hause geschrieben wurden, durch seine Umsetzung sehr berührend nahe. Die Briefe wurden am 07. und 08.09.1942 von Johann Feldhoff verfasst und per Feldpost an die Familie versendet. Am 09.09.1942 kam Johann Feldhoff ums Leben und dies wurde in dem Feldpostbrief vom 10.09.1942 der Familie mitgeteilt.
Als einzigen – und zuvor ausgiebig diskutierten - „Kunstgriff“ wird die Stimme des Kommandanten, gesprochen auch von Jo Schmitt am Ende des Videos mit der Todesnachricht eingespielt.
„Durch diese Umsetzung wird die Ausweglosigkeit, in der sich damals wie heute Menschen im Krieg befinden, fühlbar.“, so Jo Schmitt. „Ein Raum ohne Ausweg. Begriffe in den Briefen wie „noch geht es uns gut“ und „bis jetzt“ scheinen für Johann schon Vorboten für das drohende Unheil zu sein“. Die St.-Lamberti-Kirche als Drehort verstärkt zudem die Wirkung von „Schein“ und „Sein“. Diese ist innen anders, als es das Äußere vermuten lässt. Die äußerlich gewünschte erhabene und mächtige Wirkung des Turms relativiert sich beim Betreten zu einem kalten, beengten Raum mit einer Leiter ins vermeintliche Nirgendwo. Der Soldat Johann Feldhoff versuchte in seinen Briefen ebenfalls für seine Familie den Eindruck der Normalität zu vermitteln – inmitten von Krieg, mit Tod und Unheil. Die Thematik dieses Gesamtkunstwerkes ist aktueller denn je. So soll durch diese Umsetzung im Rahmen der Kammerkultur „die Auswirkungen von Krieg durch Kunst ein Stück weit greifbarer und fühlbar machen“, so Yvonne Franke. „Bei den Briefen handelt es sich nicht um „Fake-News“ oder bearbeitete Fotos, sondern um Dokumente der Zeitgeschichte mit familiärer Verbindung zu dem Oldenburger Künstler Helmut Feldmann. Hier kann die Kunst erzählen und versuchen, die Ausnahmesituation und die damit verbundenen Gefühle und Zustände teilweise zu vermitteln“.
Text und Dokumentation: Yvonne Franke
Fotos © Yvonne Franke